Nach der Krise ist vor der Innovation

Wolfgang Vogl
1. Oktober 2020

Wie Neues entsteht in Natur und Wirtschaft

Die Natur macht es vor. Sie hat ein bewährtes Muster, um Neues entstehen zu lassen. Ein Kreislauf, der Wachstum erzeugt, zumindest aber das Überleben sichert. In der Evolution sind Irritation, Variation, Selektion, (Re-)Integration, Stabilisierung und Wachstum für das Entstehen von Neuem verantwortlich. Lassen sich diese Prinzipien auch auf Unternehmen und Innovationen übertragen?

Durch Irritation entsteht Variation

Ein Entwicklungszyklus beginnt mit einer Irritation, einer Änderung in der Umwelt. Entweder schleichend oder durch eine massive „Krise” von außen. In der Natur bedeutet dies zum Beispiel, es wird wärmer oder eine neue Eiszeit beginnt. In der Wirtschaft: neue Technologien setzen sich durch, Wettbewerber treten auf den Plan, Gesetze werden erlassen oder die Extremform – eine globale Krise. Wir erinnern uns noch an „Die erste Todesliste für den stationären Einzelhandel” der Wirtschaftswoche von 2014¹,², die einen Niedergang renommierter Unternehmen durch den Online-Handel prophezeite. Anpassungsdruck entsteht.

Die Natur reagiert mit Variationen, mit Mutationen im positiven Sinne. Sie schaltet Gene in der DNA an, probiert, variiert, bringt neue Formen des Lebens hervor, erzeugt Vielfalt und Überschuss. Nicht alles ist sinnvoll, nicht alles überlebt. Blicken wir auf die eCommerce-Entwicklungen der letzten Jahre zurück, erkennen wir viele Parallelen. Viel wurde probiert, wenig wird überleben, Scheitern ist vorprogrammiert. So sind zum Beispiel die Versuche von Dawanda, Allyouneed oder Lesara bereits Geschichte.

Selektion oder die unsichtbare Hand des Marktes?

Die geheimnisvollste Phase des Kreislaufs ist die Selektion. Sinnvolle Varianten kristallisieren sich heraus. Es gibt aber keinen Plan, keine „unsichtbare Hand”, die die Selektion vornimmt. Kleine Vorteile in der Passung summieren sich über die Zeit zu überlegenen Wettbewerbsvorteilen ums Überleben. „Survival of the Fittest“ bedeutet daher nicht im sportlichen Sinne, dass der Fitteste überlebt, sondern im Sinne der Darwin’schen Evolutionstheorie, dass der am besten Angepasste überlebt. Das muss augenscheinlich nicht immer die beste Lösung sein.

Die Älteren erinnern sich noch an das Beispiel der VHS-Videokassette: Video 2000 oder Betamax waren technisch die weitaus besseren Systeme. Dennoch hat sich VHS durchgesetzt. Warum? Es kam eben auf die kleinen Vorteile in der Passung an und die waren nicht rein technischer Natur. Die Macher von VHS hatten in der Vermarktung ein besseres Händchen. Sie konnten frühzeitig große Kinofilmverleiher für sich gewinnen. Je mehr Angebote von Filmen auf VHS, desto mehr Nachfrage von Kunden. Die Nachfrage motivierte weitere Verleiher, auf VHS zu setzen. Netzwerkeffekte erzeugten eine positive Rückkopplung, bis das System den „Tipping Point“ erreichte. Der Punkt, der das System in die eine oder andere Richtung kippen lässt und zum Marktdurchbruch führt.

(Re-)Integration – Innovationen müssen „verdaut” werden

Das Neue wird in das vorhandene System integriert. Das System verändert sich, hat sich angepasst. Emergenzen entstehen: neue Funktionen höherer Komplexität und Qualität. Am Beispiel Apple erzählt, entsteht dadurch nicht nur eine neue Technik sondern mit iPod, iPhone, iTunes etc. ein komplett neues Ökosystem. Ein Ökosystem, um mit neuen Formen Musik und Medien zu kaufen und zu konsumieren, welches auch Gesellschaft und Kultur verändert. Es ist meist komplexer, aber in der Regel auch wertvoller und reichhaltiger.

Stabilisierung braucht Zeit

Dann sollte es eine Phase der Stabilisierung geben, um das System nicht zu überreizen. Um Alt und Neu in Einklang zu bringen und um mit der neuen Komplexität zurecht zu kommen. In der Natur ist dies dem Zufall überlassen, in Wirtschaft und Gesellschaft meist der Aufnahme- und Änderungsfähigkeit der Menschen. Die Innovativen, neudeutsch „Early Adopter“, sind vielleicht schon wieder weiter, der nächsten Innovation hinterher. Die breite Masse braucht jedoch länger. Auch wenn wir den Eindruck haben, dass alles immer schneller geht, so zeigen Statistiken, dass z. B. auch Telefon, Fax oder Internet Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte brauchten, um in den Alltag aller Bevölkerungsschichten einzuziehen. Unternehmen sollten diese Inkubationszeit nie unterschätzen, wie Gunter Dueck in „Das Neue und seine Feinde”³ mahnt.

Innovation und Wirtschaftlichkeit in Einklang bringen

Im besten Falle entsteht eine neue Phase von Wohlstand und Wachstum. Zumindest wurde das Überleben gesichert. Bis zum nächsten „Impact“, der den Kreislauf wieder von vorne beginnen lässt.

Was bedeutet dies für Unternehmen?

  • Sie müssen immer am Puls der Zeit, des Marktes sowie den Bedürfnissen ihrer Kunden sein und Änderungen schnell erkennen.
  • Sie müssen Raum und Zeit für Ideen und Innovationen schaffen.
  • Es muss eine Kultur des Scheiterns geben. Neues, Kreatives birgt immer die Gefahr des Scheiterns.
  • Ein schlanker, am Kunden und Markt ausgerichteter Prozess der Selektion ist zu schaffen. Die Selektion muss auf Hypothesen beruhen, die durch Kennzahlen und zählbare Ergebnisse überprüft wurden.
  • Es gilt, standardisierte Prozesse für die Integration in das vorhandene Geschäftsmodell zu etablieren.

Eine konsequente Phase der Monetarisierung und Produktivität ist erforderlich. Es dürfen nicht zu schnell neue oder zu viele Ideen in die Organisation eingespeist werden. Dies bremst die notwendige Phase der Wirtschaftlichkeit und überfordert die Organisation. Chaos wird dann mit Dynamik verwechselt.

Denn: Erfolg entsteht aus dem Wechselspiel zwischen kreativen und stabilisierenden Phasen.

¹ https://www.wiwo.de/unternehmen/handel/online-angreifer-die-bedrohtesten-haendler-deutschlands/9680678-all.html
² https://excitingcommerce.de/2014/04/02/wirtschaftswoche-todesliste
³ Buch: „Tipping Point: Wie kleine Dinge Großes bewirken können“ (Malcolm Gladwell)
⁴ Buch: „Das Neue und seine Feinde” (Gunter Dueck)

Schreiben Sie mir gerne Ihre Meinung hierzu in die Kommentare.

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